Unser Redebeitrag zur anarchistischen Vorabenddemo 30.04.22

Die Inhaftierung Oscar Wildes im Jahr 1895 führt unter US-amerikanischen Anarchist*innen zu Akten der Solidarisierung und einer Welle der Erkenntnis. 
Seine Werke inspirieren sie durch seine Positionierung zur Befreiung von moralischen Strafen und sozialen Konventionen, die das Leben bestimmen.
Wildes Verurteilung zu zwei Jahren körperlicher Arbeit auf Grund von schweren Sittlichkeitsvergehen mit Männern „acts of gross indecency with men“, schärft die Linse, durch die die Anarchist*innen die ethischen Fragen gleichgeschlechtlicher Anziehung verstehen
 
 

 
Am Beispiel der Homosexualität wird das staatliche Eindringen in das intime Privatleben offensichtlich und seine Regulierung auf moralischer, legaler und sozialer Ebene. 
Staat und Kirche stecken die Grenzen des gesellschaftlich akzeptablen Verhaltens. Die Kriminalisierung von Begehren, freier Liebe und Verhütung wird erst durch religiöse und dann „wissenschaftliche“ Argumente gerechtfertigt.
Die Anarchist*innen erkennen darin die Parabel von „gutem“ und „schlechtem“ Sex, dem gesellschaftlich akzeptablen und dem abweichenden, dem normalen und dem queeren.
Sex und alle seine Anteile sind Teil unseres herrschenden Systems und konstituieren es maßgeblich – Sex ist unser Schlachtfeld, Körper unser Schauplatz. 
 
Natürlich war auch schon damals niemand perfekt: Anarchist*innen dieser Zeit befürworteten Homosexualität im Rahmen des angepassten Geschlechtsverhaltens, solange die Männlichkeit bewahrt wurde. Femininitäten  wird schon damals kämpferisches und politisches Potential aberkannt. Aber wir sehen, dass sich Diskurse verändern und politische Bewegungen breiter und verbundener werden.
 

Anarchist*innen haben also schon sehr lange autoritäre Hierarchie abgelehnt, in der Hoffnung, das daraus eine Welt entsteht, in der Arbeit, Kultur und Liebe frei ausgedrückt und genossen werden können. 

 

Wir müssen Anarchismus in allen Lebensbereichen anwenden. Wir müssen, wie die Anarchist*innen im 19. Jahrhundert schon, erkennen, dass Liebe, Sex und Geschlecht als Werkzeuge politischer, sozialer und ökonomischer Unterdrückung benutzt werden können.
Liebe und Sex können wir vielleicht für uns befreien, bei Geschlecht sind  Hopfen und Malz verloren. 
 
Geschlecht wird benutzt, um die Arbeit in dieser Gesellschaft so aufzuteilen, dass sie dem Kapitalismus nützt. Staat und Kapital bedienen sich der patriarchalen Spaltung der sogenannten Geschlechter, um sicherzustellen, dass es kleine Produktionseinheiten für Arbeiter*innen gibt, die voneinander getrennt und immer auf sich in nichtwählbaren familialen Banden bezogen sind. 
 
Sie stellen Frauen her, die unentgeltlich die Arbeit leisten sollen, die nötig ist, aber aus der sich kein oder nicht genug Profit schlagen lässt – was wir grade schön daran sehen können wie Pflegekräfte verheizt werden als gäbe es kein Morgen. 
 
Die Verhältnisse, in denen wir leben, werden über unsere Körper ausgefochten und schreiben sich in sie hinein. Ob es das Recht auf Abtreibung ist oder das ich mir meine Titten abnehmen lassen darf. Ob es die Diäts- und Schönheitsindustrien sind, die konstante Selbstverbesserung, zu der wir alle angehalten werden, um nutzbarer zu sein. Wie be_hinderte Menschen ausgeschlossen und als überflüssig betrachtet werden, weil sie nicht zu dem Ideal leistungsfähiger Körper passen. 
 
Wir haben Körper und Geist gewaltsam voneinander getrennt, und es ist schon lange überfällig, sie wieder zusammenzubringen. Anzuerkennen, wer wir sind, wer wir sein können, wenn wir es zulassen. Genussvoll auszuprobieren, ob das was ich will queerer Sex ist oder gar kein Sex oder Testosteron oder Spironolacton oder drei Kinder oder keins. Es ist längst überfällig, dass wir uns gegenseitig liebevoll und wertschätzend begegnen und das der Sinn im Leben nicht mehr ist, dass wir für Profit produzieren. 
Die Revolution als anarchistische, als gemeinschaftliche, muss alle Trennungen im Leben zerschlagen, und so auch Geschlecht. Nicht weil Geschlecht unpraktisch und anstößig ist, sondern weil es Teil der Gesamtheit der Beziehungen ist, die täglich die kapitalistische Produktionsweise reproduzieren. 
 
Und es reicht nicht, einfach mehr Geschlechtseinträge zu schaffen, denn, wie die gender nihilists schreiben: “die Gewalt von Geschlecht kann nicht überbewertet werden. Jede ermordete trans Frau [oder fast totgeschlagene trans Jugendliche, wie im März in Herne], jedes intersex Kind, das unter Zwang operiert wird, jedes queere Kid das aus dem Haus geworfen wird, ist ein Opfer von  Geschlecht. Die Abweichung von der Norm ist immer bestraft. Eine Erweiterung der Norm ist die Erweiterung der Abweichung: Es ist die Erweiterung der Weisen auf die wir dem  Ideal nicht entsprechen können. Unendliche Geschlechtsidentitäten erschaffen unendlich neue Räume der Abweichung, die gewaltvoll bestraft werden. Geschlecht muss Abweichung bestrafen, deshalb muss Geschlecht abgeschafft werden.”
 
Wir können uns nicht auf den Staat verlassen, wenn wir glücklich sein wollen. Es geht nämlich nicht darum, dass wir glücklich sind, sondern darum, dass die Wirtschaft weiter läuft, damit der Apparat handlungsfähig bleibt. Das sehen wir grade im kleinen daran, wie lange wir darauf warten, dass das menschenfeindliche TSG durch ein besseres Selbstbestimmungsgesetz ersetzt wird. Im großen daran, wie unsere Welt zu Grunde gerichtet wird. 
 
Staat und Kapital haben sich aus unseren Körpern und unserem Sex gefälligst rauszuhalten, genau so, wie aus allem anderen auch. Denn sie kennen nur Herrschaft und Gewalt – und wir brauchen Gemeinschaft, Freiheit und Fürsorge. So, wie eigentlich schon immer. So, dass wir alle ein möglichst schönes Leben führen können.